IV-Revision: Sparen auf dem Buckel von Kranken und Menschen mit Behinderungen

bild3IV-RentnerInnen aus dem Kreis der IG Sozialhilfe nahmen verzweifelt mit uns Kontakt auf. Ihre volle IV-Rente war gestrichen oder massiv gekürzt worden. Professionelle Rekurse mussten von unserem Vertrauensanwalt  geschrieben werden. Ohne Rechtshilfe war kaum Aussicht auf Erfolg. Die Sozialversicherungsgerichte waren überlastet. Doch nach sehr langem Warten kam endlich der Bescheid: Die Betroffenen bekamen wieder eine volle Rente.

Auf den 1.1.2012 trat die 6. IV-Revision in Kraft. IV-RentnerInnen, denen im Zuge dieser Revision die volle Rente ganz gestrichen oder gekürzt wurde, kamen in grosse Not: Ihr Leiden, ihre chronischen Krankheiten und Behinderungen hatten sich keineswegs verbessert. Die Betroffenen standen vor dem Nichts, weil die IV spart. Ihre Existenz war ruiniert. Kein Einkommen mehr von der IV bedeutet auch keine BVG-Rente, keine Ergänzungsleistungen mehr. Je nach Wohngemeinde begann für die Betroffenen ein längerer oder kürzerer Spiessrutenlauf, der erniedrigende Bittgang zur Beantragung von Sozialhilfe, was ihre Gesundheit noch mehr ruinierte.

Berichte von zwei IV-Rentnerinnen:

Blitz aus heiterem Himmel

„Die IV-Verfügung traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Von der vollen Rente wurde ich per 1. September 2012 auf eine Viertelrente gesetzt! Ich falle in Ohnmacht, unerträgliches Rückenleiden – seit über einem Jahr bin ich Patientin in der Schmerzklinik des Universitätsspitals Zürich, regelmässig in psychologischer Behandlung, meine Krankheiten raffen mich über die Jahre dahin. Meine Ärzte wissen und schreiben, dass ich 100% arbeitsunfähig bin! Viertelrente, meine Existenz ist ruiniert. Schwindel erfasst mich: Druck und Chaos im Kopf, ich weine nur noch, kann kaum mehr sprechen, telefonieren. Noch anfangs Dezember kann ich oft nicht einmal telefonieren, kann nur noch liegen, weil für meinen Kopf der Druck und das Chaos zu gross sind.“

„Ich werde an den Herzspezialisten überwiesen: Blutdruckschwankungen von krankhaft hoch bis viel zu tief innert kürzester Zeit. Er fragt, ob sich in den letzten drei Monaten etwas in meinem Leben verändert habe, ob ich Stress habe, das Krankheitsbild sei seltsam.“

„Mindestens sechs Termine hatte ich bei verschiedenen Leuten auf dem Sozialamt. Einmal kippte ich fast vom Stuhl, wurde kreidebleich, weil die Sozialarbeiterin mich so demütigte. Barsch fragte sie, was los sei. Nach drei Monaten, oft ohne einen Rappen und mit unbezahlten Rechnungen, erhielt ich dann endlich einen minimalen finanziellen Ausgleich. Doch mein Einkommen ist um über 1000.- Franken geringer. Seit ich diese IV-Verfügung erhalten habe, lebe ich in extremer Überlebensangst, muss unerträgliche Ohnmacht ertragen, ich weiss nicht, wie ich mit so wenig Geld leben kann, sodass ich jetzt noch viel kränker bin als vorher, als ich die volle IV-Rente hatte.“

Ich darf mich nicht aufregen! Die ganze IV ist weg! Ich bringe mich um!

„Als Saisonniere kam ich in die Schweiz und arbeitete hart, bis es nicht mehr ging. Seit 1998 habe ich eine volle IV-Rente, weil ich eine Diskushernie habe und in den Beinen und Händen nichts mehr spürte. 2007 kollabierte ich regelmässig: Ich habe Arterienausweitungen im Hirn und wurde zwei Mal operiert. Danach kam ich wegen Panikattacken und Selbstmordabsichten in die psychiatrische Klinik. Entschuldigen Sie, dass ich weine. Ich kann nicht mehr! Seit dem 1. September 2012 ist meine volle IV-Rente weg. Meine ganze Existenz ist weg! Ich darf mich nicht aufregen, damit die kleinen Arterien im Hirn nicht platzen. So kann ich nicht mehr leben! Wo ist die Gerechtigkeit? Ich bin schwer krank und die ganze IV ist weg!

Den Rekurs habe ich organisiert, aber wie soll ich die Miete bezahlen, die Krankenkasse? Wie sollen meine Tochter und ich essen? Es dauert lange beim Sozialversicherungsgericht. Was soll ich tun? Ich möchte nur noch sterben!“

„Auf dem Sozialamt wollen sie immer noch mehr Papiere! Ich habe doch auch ein Privatleben! Die Deutsche auf dem Amt ist so entsetzlich zu mir, sie sagte, ich soll zurück nach Serbien. Ich bin doch Schweizerin seit dreissig Jahren. Soll sie doch nach Deutschland zurück! In welcher Zeit leben wir? Wo ist die Gerechtigkeit? Was für ein Land ist die Schweiz? Ich kann so nicht mehr leben – ich bringe mich um!“

Aufgezeichnet von Branka Goldstein

Krankheit und Sozialhilfebezug

Menschen, die 100% ärztlich krank geschrieben sind, aber keine IV-Rente erhalten, bleibt oft nur der Weg aufs Sozialamt. Das Personal auf den Sozialdiensten ist mit der Betreuung kranker Menschen häufig masslos überfordert. Zudem fehlt es kranken Sozialhilfebeziehenden an fachlicher und juristischer Unterstützung, um gegen negative Entscheide der IV vorgehen zu können.

Die Basler Kontaktstelle für Arbeitslose hat 2015 eine Studie in Auftrag gegeben mit dem Ziel, die Betreuung ärztlich krank geschriebener und somit arbeitsunfähiger Menschen durch die Sozialämter zu untersuchen. Der nachfolgende Text ist eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse.

Feldstudie „Krankheit und Sozialhilfe“

2015 wurden fünf Interviews mit Sozialhilfebeziehenden durchgeführt, die ärztlich 100% krank geschrieben sind, jedoch von der Invalidenversicherung (IV) eine ablehnende Verfügung  erhalten haben, somit nicht rentenberechtigt sind oder lediglich eine Teilrente beziehen. Alle Interviewten waren von der Arbeitssuche befreit. Auflage für die Auszahlung der Sozialhilfe war das regelmässige Einreichen eines aktuellen Arztzeugnisses. Im Fokus der Interviews stand das individuelle Erleben der Befragten in Bezug auf ihre Krankengeschichte und die wahrgenommene Betreuung durch die Mitarbeitenden des Sozialamts. Ergänzend wurden zwei Kurzinterviews mit Sozialarbeitenden zweier Sozialdienste geführt.

Umgang mit der Krankheit durch die Sozialämter

Vier der fünf Befragten haben den Eindruck, dass dem/der betreuenden SozialarbeiterIn ihre gesundheitliche Situation „egal“ ist. Dies kam in den Interviews durch folgende Aussagen zum Ausdruck: „Der Sozialarbeiter interessierte sich nicht für die Krankheit“; „Ich hatte den Eindruck, meine Gesundheit interessiert sie nicht“; „Bei der Anmeldung wurde nicht nachgefragt nach meinem genauen Krankheitsbild. Es wurde einfach ein Budget gemacht und ich wurde angewiesen, alle paar Monate ein neues Arztzeugnis vorzulegen. Nach dem negativen IV-Entscheid wurde mir die Integrationszulage gestrichen“; „Meine Krankheit war nie ein grosses Thema bei der Sozialhilfe. Ich denke, es hat sie nicht interessiert“; „Ich fühlte mich alleine gelassen, abgestempelt und empfand Desinteresse vom Sozialamt.“ Nur ein Befragter erwähnte, dass es in vielen Gesprächen mit dem zuständigen Sozialarbeiter um seine Krankheit gegangen sei und mögliche Massnahmen und Veränderungen besprochen wurden.

Fehlende Unterstützung im IV-Verfahren

Generell erwähnten alle Befragten, dass sie den Prozess bei der IV als schwierig, belastend und mühsam erlebten. Die Abklärungen und das Warten auf den Entscheid dauerten sehr lange. Vier der Befragten gaben an, bei der Anmeldung bei der IV keine Unterstützung durch das Sozialamt erhalten zu haben. Die Betroffenen wurden lediglich darauf hingewiesen, dass sie eine Anmeldung bei der IV vorzunehmen hätten. Bei einer Person wurde die Anmeldung durch die Sozialarbeiterin des Sozialamtes eingereicht. Im Falle eines Rekurses gegen den negativen Entscheid der IV wurde keiner der befragten Personen Hilfestellung durch das Sozialamt angeboten.

Die Sicht der befragten Sozialarbeitenden

Die Erläuterungen zweier Mitarbeitenden aus zwei Sozialdiensten betreffend zu 100% ärztlich krank geschriebenen Personen zeugen von gewissen Unterschieden in der Betreuung und Begleitung. Auf einem Sozialdienst werden die Betroffenen im Antrag an die IV und im Rekurs gegen den Entscheid der IV unterstützt. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Behindertenforum und nach Möglichkeit und Wunsch der betroffenen Person wird dieser ein Beschäftigungsprogramm angeboten. Hingegen gab der Mitarbeiter des anderen Sozialdienstes an, dass IV-Anmeldung und allenfalls Rekurs den Betroffenen empfohlen, jedoch nicht begleitet werden, da hierfür das Fachwissen und vor allem die Zeit fehlten.

Fazit und Empfehlungen

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die von Krankheit betroffenen Sozialhilfebeziehenden sich mit ihrer Situation von den Mitarbeitenden des Sozialamtes alleine gelassen fühlen und kein Interesse an ihrem Gesundheitszustand, welcher ihre Lebenssituation massgeblich beeinflusst und beeinträchtigt, wahrnehmen. Es scheint keine definierten Prozesse zu geben, wie mit dieser Gruppe von Sozialhilfebeziehenden gearbeitet wird.

Die befragten Personen sind alle infolge ihrer Krankheitsgeschichte von der Sozialhilfe abhängig geworden. Die Krankheit steht im Mittelpunkt ihres Erlebens. Die Interaktion mit der IV wirkt stark belastend. Es besteht eine Abhängigkeit von der Sozialhilfe, die eine zusätzliche Belastung darstellt. In dieser multiplen Belastungssituation fühlen sich die Betroffenen alleine gelassen.

Immaterielle Hilfeleistungen seitens der Sozialhilfe könnten die Situation der Betroffenen erleichtern. Die Schilderungen der Interviewten weisen darauf hin, dass die Sozialhilfe in ihrer Wahrnehmung „nur“ materielle Hilfe leistet, während die persönliche Problematik wenig Raum findet. Besserung könnten beispielsweise anteilnehmende Beratungsgespräche verschaffen, die auch den Raum bieten, über die Gesundheitssituation zu sprechen. Ein grundlegendes Bedürfnis der Betroffenen scheint zudem die Reintegration in den Arbeitsmarkt oder ein Beschäftigungsprogram zu sein. Hilfestellungen und Unterstützung im IV-Verfahren würden die Personen stark entlasten.

Kontaktstelle für Arbeitslose, Melanie Flubacher, BSc ZHF in Angewandter PsychologieText von der Redaktion leicht redigiert und gekürzt