Düstere Aussichten für Sozialhilfebeziehende

bild2Kürzung des Grundbedarfs um bis zu 30 Prozent; weniger Sozialhilfe für Junge und für grosse Familien. Für Sozialhilfebeziehende ist der 1. Mai kein Tag zum Feiern. Ihr Leben wird noch härter, ihre Position wird noch weiter geschwächt. Und für die Zukunft stimmt es nicht gerade optimistisch, dass die Sozialhilfe immer weniger von Fachleuten, sondern immer mehr von Politikern festgelegt wird. Damit aber nicht genug: Bereits in den nächsten Monaten stehen mit dem neuen Strafartikel „Sozialmissbrauch“ und mit den Plänen, die Nothilfe salonfähig zu machen, weitere Verschärfungen an, welche den Alltag der Sozialhilfebeziehenden noch schwerer machen werden.

Als wäre es Absicht: Genau am ersten Mai, dem Feiertag der Linken und der Arbeitnehmerschaft, lässt der Regierungsrat des Kantons Zürich die härtesten Verschärfungen im Bereich der Sozialhilfe in Kraft treten, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Denn ab dem ersten Mai gelten in den Gemeinden des Kanton Zürich die neuen SKOS-Richtlinien, die zahlreiche Verschlechterungen für Sozialhilfebeziehende mit sich bringen. In anderen Kantonen sind diese Verschärfungen bereits in Kraft.

Weniger Unterstützung, mehr Kürzungen

Der Alltag wird für Armutsbetroffene nun noch härter: Die SKOS-Richtlinien, welche in fast allen Kantonen festlegen, wer wieviel Sozialhilfe erhält, wurden in verschiedenen Punkten deutlich verschärft: So erhalten Jugendliche und Grossfamilien deutlich weniger Sozialhilfe als bisher. Und bei einem Fehlverhalten eines Sozialhilfebeziehenden kann seine Sozialhilfe neu doppelt so stark gekürzt werden, als dies bisher der Fall war. Nun kann die Sozialhilfe um bis zu 30% des Grundbedarfs reduziert werden. Als wäre dies noch nicht genug, wird auch die minimale Integrationszulage MIZ für kranke Sozialhilfebeziehende ganz gestrichen. Diese Zulage von 100 Franken pro Monat sollte bisher etwas die Diskriminierung lindern, die sich dadurch ergibt, dass kranke Sozialhilfebeziehende nicht in der Lage sind, an Integrationsprogrammen teilzunehmen und so ein Anrecht auf die Integrationszulage IZU zu erwerben.

Die SKOS hat damit auf das Dauerfeuer von rechts, vor allem von der SVP, aber auch von der FDP und der GLP, auf hysterische Boulevard-Titel in den Medien („Sozialwahn“, „Sozial-Irrsinn“) und auf Austrittsdrohungen  von ein paar wenigen Gemeinden auf die schlechtest mögliche Art reagiert: Anstatt dem Druck standzuhalten und zu erklären, warum die SKOS-Richtlinien so sind, wie sie sind und auf welcher fachlich und statistisch fundierten Basis sich die Sozialhilfe berechnet, ist die SKOS eingeknickt und hat die Richtlinien verschärft, in der trügerischen Hoffnung, den Kritikern damit etwas Wind aus den Segeln nehmen zu können.

Ich wage die Prognose, dass das Gegenteil der Fall sein wird: Die Haie haben jetzt Blut geleckt und festgestellt, dass das Sozialhilfe-Bashing Früchte trägt. Sie werden nun ganz sicher nicht aufhören, weitere Verschärfungen in der Sozialhilfe zu verlangen, ganz im Gegenteil: Bereits fordert die SVP in einem Positionspapier eine noch massivere Reduktion der Sozialhilfe-Grundbedarfs für den Lebensunterhalt von aktuell CHF 986.– pro Monat auf CHF 600.– pro Monat. Weiter wird gefordert, dass sämtliche Gemeinden und Kantone aus der SKOS austreten sollen, damit jede Gemeinde selber bestimmen kann, wieviel Sozialhilfe sie den Bedürftigen ausrichten will. Und schliesslich wird eine „Entprofessionalisierung“ verlangt: Nicht mehr ausgebildete Fachleute sollen die Sozialhilfefälle professionell betreuen, sondern es sollen wieder Laienbehörden willkürlich, quasi am Stammtisch, entscheiden können, wer unterstützt wird und wer nicht.

Von Fach-Richtlinien zu politischen Richtlinien

Diese Revisionen der SKOS-Richtlinien sind aber auch von ganz grundsätzlicher Bedeutung. Sie führen nicht nur zu einer konkreten Reduktion der Sozialhilfeleistungen für die Betroffenen, sondern rütteln auch am bisherigen Fundament der Sozialhilfe: Denn nach diesen vielen Leistungsreduktionen haben die SKOS-Richtlinien heute weniger denn je einen Bezug zu fachlich fundierten statistischen Zahlen. Denn ursprünglich basieren die SKOS-Richtlinien auf offiziellen Zahlen der Statistik. Der Grundbedarf, welcher den Sozialhilfebeziehenden zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zur Verfügung steht, wurde nicht einfach willkürlich festgelegt, sondern die SKOS orientierte sich an wissenschaftlichen Erhebungen des Bundesamtes für Statistik. Dieses erhebt regelmässig, wieviel Geld der Bevölkerung in der Schweiz monatlich zur Verfügung steht. Und die Sozialhilfe orientierte sich bisher am Haushaltsbetrag, der gemäss dieser offiziellen Statistik den ärmsten 10% der Bevölkerung zur Verfügung steht.

Bereits in der Vergangenheit wurde dieser Bezug zu den offiziellen wissenschaftlichen Zahlen aufgeweicht: Schon in der SKOS-Revision 2005 wurde der Grundbedarf – abweichend von den statistischen Zahlen – reduziert und dafür wurde die Integrationszulage IZU geschaffen. Aber jetzt, wo der Grundbedarf für junge Erwachsene und für grosse Familien noch mehr – und wieder entgegen den Zahlen der Statistik – reduziert wird, haben die Sozialhilfeleistungen ihre fachliche Legitimation noch weiter verloren. Die SKOS-Richtlinien sind also immer weniger Fachinformationen, sondern nur noch politisch festgelegte Richtlinien.

Sozialhilfe wird zum Spielball der Politik

Dazu passt auch eine Änderung, die bisher erstaunlich wenig öffentliche Beachtung gefunden hat, obwohl sie enorme Konsequenzen haben könnte. Die SKOS hat sich nämlich mit der aktuellen Revision selbst entmündigt und entscheidet jetzt nicht mehr selber über den Inhalt der SKOS-Richtlinien: Sie kann nur noch Vorschläge machen, aber der eigentliche Entscheid über die Ausgestaltung der Sozialhilfe-Richtlinien wird nun von den kantonalen Sozialdirektoren gefällt. Nun sagen also nur noch die Politiker und nicht mehr die Fachleute, wie hoch die Sozialhilfe sein soll.

Vielleicht hat sich die SKOS damit für ein paar Jahre etwas Luft vor ihren Kritikern verschafft, aber längerfristig hat sie damit ihre eigene Bedeutung als Fachorganisation nachhaltig geschwächt. Leidtragende werden primär die Betroffenen sein, die nun mit noch weniger Geld und mit noch mehr Strafen leben müssen. Und sie werden nun noch mehr als früher zum Spielball der Politik werden, denn die Abkoppelung von der Statistik und die Verpolitisierung der Sozialhilfe werden in Zukunft dazu führen, dass die Höhe der Sozialhilfe noch viel willkürlicher und je nach aktueller politischer Grosswetterlage festgelegt werden wird.

Weitere Verschlechterungen in Sicht

Und diese sieht düster aus: Es ziehen bereits die nächsten dunkle Wolken auf. Die SKOS hat nämlich bereits verlauten lassen, mit welchen weiteren Revisionen für das Jahr 2017 gerechnet werden muss. Neben sinnvollen Projekten wie der Einführung von Regeln zur maximalen Höhe von Mietzinsen und zur Ausrichtung von situationsbedingten Leistungen soll offenbar auch die Nothilfe in den SKOS-Richtlinien geregelt werden. Die Nothilfe – die man bisher beispielsweise für abgewiesene Asylbewerber kennt – ist aber keine Sozialhilfe mehr, sondern stellt nur noch die absolut minimalste Form der Existenzsicherung dar. Mit Nothilfe kann man nicht mehr ein halbwegs normales Leben führen, sondern die Nothilfe ermöglicht nur noch das nackte Überleben. Wer mit Nothilfe unterstützt wird, der erhält je nach Kanton nur noch 8 bis 12 Franken pro Tag.

Heute gibt es nur ganz wenige Extremfälle, in welchen nur ganz wenige Sozialhilfebeziehende in einem solchen Nothilfe-Regime leben müssen, z.B. wenn sie jegliche Kooperation verweigern. Bei der Nothilfe handelt es sich heute noch um eine absolute Ausnahmesituation, was sich nur schon dadurch zeigt, dass ihre Ausgestaltung nirgends klar geregelt ist. Dies hindert heute noch viele Gemeinden daran, unkooperative Sozialhilfebeziehende vorschnell auf Nothilfe zu setzen. Sollte aber in Zukunft ein offizielles Kapitel „Nothilfe“ Eingang in die SKOS-Richtlinien finden, wo diese minimalste Unterstützung offiziell eingeführt und in Franken und Rappen geregelt wird, dann würde die Nothilfe dadurch bei vielen Gemeinden salonfähig gemacht. Es besteht die konkrete Gefahr, dass die heutige Sozialhilfe dann zur Luxusvariante für die „braven“ Sozialhilfebeziehenden wird, während die Sperrigen oder Mühsamen dann mit Nothilfe auf Wasser und Brot gesetzt werden können.

Mit einem Bein im Gefängnis

Und ab dem 1. Oktober 2016 hinzu, dass Sozialhilfebeziehende bei den kleinsten Unregelmässigkeiten strafrechtlich verfolgt werden können. Haben sie keinen Schweizer Pass, droht ihnen darüber hinaus die Ausschaffung. Das Stimmvolk hat zwar am 28. Februar 2016 die Durchsetzungsinitiative deutlich abgelehnt, aber im Jahre 2010 hat es die Ausschaffungsinitiative angenommen. Und diese wird nun mit einem sogenannt „pfefferscharfen“ Gesetz umgesetzt.

Für Sozialhilfebeziehende besonders gravierend ist der neue Artikel 148a des Strafgesetzbuches, der sogenannte Sozialmissbrauch. Dieser lautet: „Wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass er oder ein anderer unrechtmässig Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem anderen nicht zustehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. In leichten Fällen ist die Strafe Busse“.

Das Besondere an diesem neuen Strafdelikt ist, dass man – im Gegensatz zum Betrug nach Art. 146 StGB – gar nichts tun muss, damit es erfüllt ist. Um einen Betrug zu begehen, muss man schon etwas Phantasie und eine minimale kriminelle Energie besitzen. Nur wer sein Opfer belügt, mit gefälschten Dokumenten operiert oder sonstwie sein Opfer täuscht, der handelt arglistig und wird als Betrüger verurteilt. Beim Sozialhilfemissbrauch braucht es das alles nicht mehr: Es genügt, dass ein Sozialhilfebezüger vorsätzlich eine Einnahme verschweigt, und schon hat er den Tatbestand des Sozialmissbrauchs erfüllt. Alle Sozialhilfebeziehenden werden also ab Oktober extrem aufpassen müssen, dass sie keinerlei Fehler mehr machen und dass sie nichts, aber auch gar nichts vergessen, dem Sozialamt mitzuteilen. Denn schon bei der geringsten Unterlassung droht eine Gefängnisstrafe und ein Strafregistereintrag.

Und wer keinen Schweizer Pass besitzt, dem droht darüber hinaus noch die Landesverweisung. Denn Ausländer, die sich strafbar machen, werden grundsätzlich aus der Schweiz ausgeschafft, ausser wenn ihre Ausschaffung ausnahmsweise einen absoluten Härtefall darstellen sollte. Nur Secondos, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben und hier Familie und Kinder haben, werden eine Chance haben, sich auf diese Härtefallklausel zu berufen. Die anderen werden ausgeschafft.

Um das Bild aufzunehmen, das ein pensionierter italienischer Secondo in einer Arena-Sendung zur Durchsetzungsinitiative gemacht hat: Ab Oktober stehen alle Sozialhilfebeziehende mit einem Bein im Gefängnis. Und haben sie keinen Schweizer Pass, dann stehen sie darüber hinaus „mit einem Bein in Domodossola“, sprich unmittelbar vor der Ausschaffung. Der kleinste Fehler bei der Deklaration von Einnahmen genügt.

Ja, das alles sind düstere Aussichten für Sozialhilfebeziehende. Ihr Leben wird in Zukunft nicht einfacher werden, ihre rechtliche und soziale Position nicht stärker. Wenn es also stimmt, was zuoberst in unserer Bundesverfassung steht, nämlich dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst, dann steht es nicht allzu gut: Je mehr wir die Schwachen mit Leistungskürzungen und Sanktionen schwächen, umso mehr schwächen wir damit uns alle.

Pierre Heusser, Vertrauensanwalt der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS